Kommi und die Geschichte vom Adler

Es muss wohl schon ein paar Wochen her sein, dass Kommi diesen Jungen traf. Es war ein ganz gewöhnlicher Tag gewesen und nichts kündigte etwas Besonderes an. Doch dann traf Kommi diesen Jungen. Er mochte vielleicht zehn Jahre alt sein. Seine dünnen blonden Haare standen ihm wie kleine Strohhalme vom Kopf ab, seine himmelblauen Augen leuchteten  unter seinem Pony hervor und auf seiner Nase hatte sich eine kleine Armee von Sommersprossen versammelt. Sein schmaler Körper bewegte sich flink und geschmeidig, als er sich auf sein Fahrrad schwang und auf dem Fahrradsattel einige kleine  Kunststücke vollbrachte.
Kommi schaute dem Jungen interessiert zu und nun sah er auch den großen Adler, der vorn auf dem Sweatshirt des Jungen prangte und mit seinen ausgebreiteten Flügeln über den Pullover zu fliegen schien.
Mit einem lauten „Wum“ sprang der Junge vom Rad und beendete seine kleine Vorführung. Kommi applaudiert und setzte sich zu ihm. Noch etwas außer Atmen sagte der Junge „Weißt du waaas ? Meine Oma hat mir heute eine Geschichte erzählt, an die muss ich immer denken, darf ich sie dir erzählen?“ Nur zu sagte Komi…
„Ein Mann ging in einen Wald und fand einen Vogel. Es war ein junger Adler, der verschreckt auf dem Boden saß und wohl aus seinem Nest gefallen war. Der Mann nahm den Vogel mit nach Hause und steckte ihn in den Hühnerhof zu den Hennen, Enten und Truthühnern. Und er gab ihm Hühnerfutter zu fressen, obwohl er ein Adler war, der König der Vögel.

Nach fünf Jahren erhielt der Mann den Besuch eines naturkundigen Mannes. Und als sie miteinander durch den Garten gingen, sagte er. »Dieser Vogel dort ist kein Huhn, er ist ein Adler. «Ja«, sagte der Mann, »das stimmt. Aber ich habe ihn zu einem Huhn erzogen. Er ist jetzt kein Adler mehr, sondern ein Huhn, auch wenn seine Flügel drei Meter breit sind. «

»Nein«, sagte der andere. »Er ist immer noch ein Adler, denn er hat das Herz eines Adlers, und das wird ihn hoch hinauffliegen lassen in die Lüfte. « »Nein, nein«, sagte der Mann, »er ist jetzt ein richtiges Huhn und wird niemals fliegen. «

Darauf beschlossen sie, eine Probe zu machen. Der naturkundige Mann nahm den Adler, hob ihn in die Höhe und sagte beschwörend: »Der du ein Adler bist, der du dem Himmel gehörst und nicht dieser Erde: breite deine Schwingen aus und fliege!«
Der Adler saß auf der hochgereckten Faust und blickte um sich. Hinter sich sah er die Hühner nach ihren Körnern picken, und er sprang zu ihnen hinunter. Der Mann sagte: »Ich habe dir gesagt, er ist ein Huhn.« – »Nein«, sagte der andere, »er ist ein Adler. Versuche es morgen noch einmal.«
Am nächsten Morgen erhob er sich früh, nahm den Adler und brachte ihn hinaus aus der Stadt, weit weg von den Häusern an den Fuß eines hohen Berges. Die Sonne stieg gerade auf, sie vergoldete den Gipfel des Berges, jede Zinne erstrahlte in der Freude eines wundervollen Morgens.
Er hob den Adler und sagte zu ihm: »Adler, du bist ein Adler. Du gehörst dem Himmel und nicht dieser Erde. Breite deine Schwingen aus und fliege!« Der Adler blickte umher, zitterte, als erfüllte ihn neues Leben – aber er flog nicht.
Da ließ ihn der naturkundige Mann direkt in die Sonne schauen.
Und plötzlich breitete er seine gewaltigen Flügel aus, erhob sich mit dem Schrei eines Adlers, flog höher und kehrte nie wieder zurück.

„Ja, er war eben ein Adler“, sagte Kommi „auch wenn er als Huhn erzogen wurde….“