Eine KOMMI Geschichte von Mut und Wachstum

Foto: Annette Meinecke, Ausstellung Banksy, Mainz 2021,

KOMMI und der Elefant

Heute ist das Kissen aber hart, ärgerte sich KOMMI, als er an seinem Lieblingsort, der Fensterbank in der Bessungerstraße, saß.
KOMMI war eigentlich nicht ärgerlich, sondern sehr, sehr traurig. Er hätte heute so gern den Kindern in der Schule ein „Bärensalto“ vorgemacht. Doch er hatte sich nicht getraut und war einfach ganz still sitzen geblieben. Er hatte es vor langer Zeit schon mal probiert und war dabei ausgerutscht und auf seine Bärennase gefallen. Er hatte sich geschämt und wollte sowas nie wieder erleben.
KOMMI ruckelt und zupfte am Kissen, als er plötzlich von einem lauten Trompeten unterbrochen wurde. Wenn es nicht unmöglich wäre, so hätte er glauben können, dass da gerade ein Elefant die Straße entlang zieht. Und richtig. Als er den Kopf hob und aus dem Fenster blickte, sah er einen  wunderschönen Elefanten, der von einem alten Mann in bunter, mit Gold bestickter Kleidung, geführt würde.
Hartes Kissen hin oder her, das musste KOMMI aus der Nähe betrachten. Wie der Wind stürmte er auf die Straße. Er musste  ein wenig rennen, doch er erwischte den Elefanten und den Mann noch gerade rechtzeitig, bevor sie auf die große Straße abbogen.
Mit seinen kleinen Eisbärbeinen lief er neben den beiden her. Der Mann blickte freundlich zu ihm und fragte: “Wunderst du dich, dass wir hier durch die Straße ziehen?“  KOMMI nickte.
„Ich erzähl dir eine Geschichte,“ fuhr der Mann fort…
„Als ich ein kleiner Junge war, war ich vollkommen vom Zirkus fasziniert, und am meisten gefielen mir die Tiere. Vor allem der Elefant hatte es mir angetan. Wie ich später erfuhr, ist er das Lieblingstier vieler Kinder.
Während der Zirkusvorstellung stellte das riesige Tier sein ungeheures Gewicht, seine eindrucksvolle Größe und seine Kraft zur Schau. Nach der Vorstellung aber und auch in der Zeit bis kurz vor seinem Auftritt blieb der Elefant immer am Fuß an einen kleinen Pflock angekettet. Der Pflock war allerdings nichts weiter als ein winziges Stück Holz, das kaum ein paar Zentimeter tief in der Erde steckte. Und obwohl die Kette mächtig und schwer war, stand für mich ganz außer Zweifel, dass ein Tier, das die Kraft hatte, einen Baum mitsamt der Wurzel auszureißen, sich mit Leichtigkeit von einem solchen Pflock befreien und fliehen konnte.
Dieses Rätsel beschäftigt mich bis heute. Was hält ihn zurück? Warum macht er sich nicht auf und davon?
Als Sechs- oder Siebenjähriger vertraute ich noch auf die Weisheit der Erwachsenen. Also fragte ich einen Lehrer, einen Vater oder Onkel nach dem Rätsel des Elefanten. Einer von ihnen erklärte mir, der Elefant mache sich nicht aus dem Staub, weil der dressiert sei.
Meine nächste Frage lag auf der Hand: „Und wenn er dressiert ist, warum muss er dann noch angekettet werden?“[…]Vor einigen Jahren fand ich heraus, dass zu meinem Glück doch schon jemand weise genug gewesen war, die Antwort auf die Frage zu finden: Der Zirkuselefant flieht nicht, weil er schon seit frühester Kindheit an einen solchen Pflock gekettet ist!
Ich schloss die Augen und stellte mir den wehrlosen neugeborenen Elefanten am Pflock vor. Ich war mir sicher, dass er in diesem Moment schubst, zieht und schwitzt und sich zu befreien versucht. Und trotz aller Anstrengung gelingt es ihm nicht, weil dieser Pflock zu fest in der Erde steckt.
Ich stellte mir vor, dass er erschöpft einschläft und es am nächsten Tag gleich wieder probiert, und am nächsten Tag wieder, und am nächsten…Bis eines Tages, eines für seine Zukunft verhängnisvollen Tages, das Tier seine Ohnmacht akzeptiert und sich in sein Schicksal fügt.
Dieser riesige, mächtige Elefant, den wir aus dem Zirkus kennen, flieht nicht, weil der Ärmste glaubt, dass er es nicht kann. Allzu tief hat sich die Erinnerung daran, wie ohnmächtig er sich kurz nach seiner Geburt gefühlt hat, in sein Gedächtnis eingebrannt. Und das Schlimme dabei ist, dass er diese Erinnerung nie wieder ernsthaft hinterfragt hat. Nie wieder hat er versucht, seine Kraft auf die Probe zu stellen.

Uns allen geht es ein bisschen so wie diesem Zirkuselefanten: Wir bewegen uns in der Welt, als wären wir an Hunderte von Pflöcken gekettet. Wir glauben, einen ganzen Haufen Dinge nicht zu können bloß, weil wir sie ein einziges Mal, vor sehr langer Zeit, damals, als wir noch klein waren, ausprobiert haben und gescheitert sind. Wir haben uns genauso verhalten wie der Elefant, und auch in unser Gedächtnis hat sich die Botschaft eingebrannt: Ich kann das nicht, und ich werde es niemals können. Mit dieser Botschaft, der Botschaft, dass wir machtlos sind, sind wir groß geworden, und seitdem haben wir niemals mehr versucht, uns von unserem Pflock loszureißen.

Der einzige Weg herauszufinden, ob du etwas kannst oder nicht, ist, es auszuprobieren, und zwar mit vollem Einsatz. Aus ganzem Herzen!“

Der angekettete Elefant, Geschichte von Jorge Bucay: „Komm, ich erzähl dir eine Geschichte“